Was ist die Bindungstheorie? – Werner Eberwein (2024)

Die Bindungstheorie ist eine entwicklungspsychologische Theorie, die sich mit den Eigenarten, Ursachen, und Folgen frühkindlicher Bindungsprozesse beschäftigt. Sie geht davon aus, dass Kleinkinder ein angeborenes Bedürfnis haben, dauerhafte, enge und emotional intensive, Sicherheit gebende Beziehungen („Bindungen“) zu ihren primären Bezugspersonen aufzubauen. Die Bindungstheorie untersucht die Wirkungen des Interaktionsverhaltens der Bindungsperson/en auf die kindliche Entwicklung sowie die generationsübergreifende Weitergabe von Bindungsmustern.

Die Bindungstheorie wurde maßgeblich von dem englischen Kinderpsychiater John Bowlby (1907-1990), dem schottischen Psychoanalytiker James Robertson (1911-1988) und der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth (1913-1999) begründet. Bowlby beschrieb die Grundlagen der Bindungstheorie in seinem dreibändigen Werk „Bindung“ (1969), „Trennung“ (1973) und „Verlust“ (1980), das insgesamt über 1200 Seiten umfasst. Er verdeutlichte seine Theorie in dem bekannten Film „A two-year-old goes to hospital“, von dem ein >>>kurzer Ausschnitt auf youtube angeschaut werden kann.

Die Bindungstheorie gehört zu den empirisch, insbesondere durch prospektive Längsschnittstudien am besten fundierten Theorien über die psychische Entwicklung des Menschen.

Im Gegensatz zu der damals üblichen Praxis in Krankenhäusern betonte Bowlby die nachteiligen bis dramatischen Auswirkungen anhaltender früher Trennungen von Kleinkindern von den Eltern und untersuchte Störungen der früheren Bindungen zwischen Mutter und Kind als Faktoren für die Entstehung psychischer Störungen im Erwachsenen.

Um die Bindung zu den primären Bezugspersonen zu etablieren und aufrechtzuerhalten, und vor allem wenn sie Angst erleben, zeigen Säuglinge und Kleinkinder ein schutzsuchendes„Bindungsverhalten“, das auf sehr ähnliche Weise auch bei den höheren Primaten wie Schimpansen oder Gorillababys zu beobachten ist. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich das Kind von der Bindungsperson getrennt fühlt, wenn es in einer unbekannten Situaiton ist oder in Anwesenheit fremder Menschen, die als bedrohlich erlebt werden.

Bowlby ging davon aus, dass die körperliche Nähe zu einem Muttertier phylogenetisch unter anderem dem Schutz vor Raubtieren diente. Auch menschliche Säuglinge und Kleinkinder suchen (vor allem in Situationen von Gefahr, Angst oder Schmerz) den Schutz und die Beruhigung durch Bindungspersonen, indem sie die Bindungsperson suchen, sie anschauen, anlächeln, zu ihr hinkrabbeln, schreien oder sich an ihr festklammern. (Auch Erwachsene suchen in Krisen- oder Gefahrensituationen die Nähe vertrauter und Sicherheit gebender Bezugspersonen oder Gruppen.) Das Bindungssystem wird vor allem dann aktiviert, wenn eine reale oder subjektiv erlebte Gefahr aus eigenem Vermögen nicht behoben werden kann.

Wenn das Bindungssystem aktiviert ist (bspw. wegen zu großer Entfernung von der Bindungsperson oder bei einer angstmachenden Entdeckung), wird das Explorationsverhalten eingeschränkt oder aufgegeben und die Nähe zur Bindungsperson wird gesucht. Wenn dieses Bindungsverhalten zu einer angemessenen Reaktionen der Bindungsperson führt, wenn diese also die Signale des Kindes prompt wahrnimmt, richtig interpretiert und angemessen und feinfühlig abgestimmt darauf eingeht, dann beruhigt sich das Kleinkind relativ schnell wieder und geht zu Explorations- und Erkundungsverhalten über, wobei es sich jedoch ständig, etwa durch Blickkontakt oder zeitweilige Suche nach Körperkontakt bei der Bindungsperson rückversichert. Es entsteht eine sichere Bindung. Wenn die Bindungsperson dagegen nicht, unzureichend, zu spät oder inkonsistent und unzuverlässig reagiert, entsteht eine unsichere Bindung. Auch wenn die Bindungspersonen das Kind z.B. aufgrund von Ängsten zu sehr binden, wird das Explorationsverhalten des Kindes gehemmt. Bindung und Exploration entwickeln sich also in einem Wechselverhältnis miteinander.

Durch vielfältige solche Interaktionen entstehen im Kleinkind (für jede Bindungsperson getrennte) „innere Arbeitsmodelle“ (Bowlby) die dem Kleinkind helfen, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren und vorherzusagen. Diese verfestigen sich später zu „Bindungsrepräsentationen“ (psychoanalytisch gesprochen) bzw. „Bindungsschemata“ (verhaltenstherapeutisch ausgedrückt).

Bowlbys Untersuchungen ergaben, dass insbesondere die Feinfühligkeit (abgestimmte Empathie) der Bindungspersonen über die Stabilität der frühkindlichen Bindung entscheidet. Darunter ist zu verstehen, dass die Bindungsperson unmittelbar und der Situation sowie den Bedürfnissen des Kleinkindes angemessen reagiert. Die Bindungsperson muss

  • auch nur angedeutete (dezente) Bindungssignale des Kindes aufmerksam wahrnehmen,
  • richtig deuten (weint das Kind aus Angst, Hunger, Schmerz, Müdigkeit, Langeweile?) und
  • prompt (also nicht zu spät) und
  • angemessen darauf reagieren (also nicht mit Über- oder Unterstimulation).

Säuglinge weniger feinfühliger Bindungspersonen sind ängstlicher, sie neigen mehr zu Ärger und Wut, entfernen sich kaum zum Spielen von der Bindungsperson, können sich in ihrer Nähe aber auch nicht angemessen beruhigen und interessiert spielen, und sie können gesetzte Grenzen weniger akzeptieren.

Bindungsdynamiken zeigen einen transgenerativen Effekt, d.h. sie werden (in der Regel unbewusst) von einer Generation zur nächsten weitergegeben und bestimmen im Erwachsenen deren Bindungsmuster.

Mary Ainsworth entwickelte ein experimentelles Setting, die so genannte „Fremde Situation“, in der die Reaktionen von 12 bis 18 Monate alten Kindern auf kurze (wenige Minuten dauernde) Trennungen von ihren Bindungspersonen (in der Regel der Mutter) beobachtet und systematisch ausgewertet werden konnten. Dabei verlässt die Bindungsperson mehrfach für einige Minuten den Raum und kommt zurück, während eine fremde Person im Raum bleibt, die zuletzt ebenfalls kurz den Raum verlässt.

Bowlby et al unterschieden folgende vier Bindungstypen:

  1. „Sicher“ gebundene Kinder können Nähe und Distanz der Bindungspersonen angemessen regulieren. In Trennungssituationen sind sie kurzfristig irritiert, weinen, zeigen Bindungsverhalten, lassen sich aber auch von anderen Personen trösten und begrüßen die Bindungsperson freudig, sobald sie wiederkommt. Aufgrund großer Feinfühligkeit ihrer Bindungspersonen sind sie zuversichtlich bezüglich deren Verfügbarkeit. Die Bindungspersonen haben die kindlichen Signale prompt wahrgenommen, richtig interpretiert und darauf angemessen reagiert, wodurch das Kind keinen starken Frustrationen ausgesetzt war. Es kann daher darauf vertrauen, dass die Bindungsperson für Sie da ist und angemessen reagiert. Die Bindungsperson ist für diese Kinder ein „sicherer Hafen“, der ihnen Schutz bietet, wenn sie das brauchen.
  2. „Unsicher vermeidend“ gebundene Kinder wirken scheinbar unabhängig von der Bindungsperson, ja sie vermeiden auf auffällige Weise engeren Kontakt und beschäftigen sich eher beispielsweise mit Spielsachen. Eine Trennung von der Bindungsperson scheint sie äußerlich wenig zu beeindrucken, sie reagieren weder ängstlich noch traurig noch ärgerlich. Wenn die Bindungsperson zurückkehrt, wird sie vom Kind scheinbar kaum bemerkt, abgelehnt oder ignoriert. Das Kind sucht eher die Nähe anderer Personen und meidet die eigentliche Bindungsperson. Das Kind hat die Erwartung entwickelt, dass seine Wünsche bei der Bindungsperson auf Ablehnung stoßen, und dass es keine Zuwendung und Sicherheit erhalten wird. Beziehungsvermeidung ist ein Ausweg aus der kaum erträglichen Erfahrung, immer wieder zurückgewiesen zu werden.
  3. „Unsicher ambivalent“ gebundene Kinder verhalten sich auf widersprüchliche Weise anhängig gegenüber ihren Bindungspersonen. Sie wirken in Trennungssituationen übermäßig verunsichert, weinen schnell und heftig, wirken aggressiv und verzweifelt. Wenn die Bindungsperson zurückkehrt, wechseln sie zwischen heftigem Anklammern und aggressivem Abweisen und sind nur schwer zu beruhigen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bindungspersonen nicht zuverlässig und vorhersagbar reagieren, sondern undurchschaubar zwischen empathischem und zurückweisenden Verhalten wechseln. Daher ist das Bindungssystem des Kindes pausenlos aktiviert. Das Kind muss ständig versuchen, zu erfassen, in welcher Stimmung oder welchem Zustand die Bindungsperson gerade ist, um sich daran anzupassen, was zu einer Einschränkung des kindlichen Erkundungsverhaltens führt.
  4. „Desorganisiert“ gebundene Kinder verhalten sich in Trennungssituationen unvorhersagbar, massiv beunruhigt und offensichtlich desorientiert. Sie zeigen bizarre, unvollständige oder stereotype Verhaltensweisen (z.B. Erstarren, Drehen im Kreis, Hin-und-her-Schaukeln). Sie scheinen gleichzeitig intensiv nach Nähe zu suchen, diese aber zugleich abzulehnen. In Trennungssituationen schreien diese Kinder nach ihrer Bindungsperson, erschrecken aber wenn sie zurückkommen und meiden ihre Nähe. Manche erstarren mit einem Trance-artigen Gesichtsausdruck, lassen alle Bewegungen einfrieren oder lassen sich auf den Boden fallen, wenn die Bindungsperson zurückkehrt. Da hier die Bindungsperson selbst als Bedrohung wahrgenommen wird (beispielsweise durch Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch) befindet sich das Kind in einer Double-Bein-Situation, die sich in seinem desorganisierten Verhalten ausdrückt. Ähnliche Dynamiken werden auch bei Kindern von schwer traumatisierten, sehr ängstlichen oder anderweitig massiv psychisch gestörten Eltern beobachtet.

Bindungsstörungen

  • Mehrere oder lang anhaltende Beziehungsabbrüche durch die Bindungspersonen können bei Kindern dazu führen, dass sie kein Bindungsverhalten mehr zeigen, grundsätzlich nicht mehr in der Lage sind, sich auf engere Bindungen einzulassen oder eine stark ambivalente Einstellung gegenüber engen Bindungen zu entwickeln.
  • Eine andere Variante ist undifferenziertes Bindungsverhalten („soziale Promiskuität“). Solche Kinder zeigen keine Zurückhaltung gegenüber fremden Personen, sondern verhalten sich unterschiedlichen Personen sowie Fremden gegenüber nahezu gleich, wenn ihr Bindungssystem aktiviert wird. Ihnen fehlt auch das „soziale Referenzieren“, also das Rückversichern bei der Bindungsperson, ob ihr Verhalten gefahrlos und sozial angemessen ist, wodurch diese Kinder zu riskantem und sozial entgrenztem Verhalten neigen.
  • Eine andere Variante von Bindungsstörungen ist übersteigertes Bindungsverhalten. Diese Kinder neigen zu überstarken Anklammern an die Bindungsperson und sind nur durch intensive, dauernde körperliche Nähe zur Bindungsperson zu beruhigen.
  • Kinder mit einem gehemmtem Bindungsverhalten zeigen eine übermäßige Angepasstheit an die wechselnden Stimmungen der Bindungsperson, oft ausgelöst durch Gewalt oder Drohungen, wodurch das Kind seine Bindungswünsche zurückhalten muss.
  • Bei aggressiven Bindungsverhalten sucht das Kind Nähe durch körperliche oder verbale Aggressionen, was aber Ausdruck von Nähewünschen ist und in der Regel entsprechende Interaktionsmuster innerhalb der Familie wiederspiegelt.
  • Bei einer Rollenumkehr übernimmt das Kind auf fürsorgliche Weise Verantwortung für die Stimmungen der Eltern, etwa weil es um deren Verlust, etwa durch Krankheit, Trennung oder Tod fürchtet.
  • Bindungsstörungen können auch die Form psychosomatischer Störungen sowie von Ess-, Schrei- oder Schlafstörungen annehmen.

Neuere Forschungen ergaben, dass unsichere Bindungen im Kleinkindalter die Entstehung praktisch aller psychischen Störungen (insbesondere ADHS, Borderline, Angst- und Abhängigkeitsstörungen) fördern. Erwachsene, die als Kinder unsicher oder gestört gebunden waren, fühlen sich weniger sozial akzeptiert und sind erheblich depressiver. Bindungsstörungen senken die Schwelle beim Erwachsenen, ab der ein Mensch Belastungen nicht mehr angemessen verarbeiten kann und stattdessen eine psychische Störung entwickelt.

Sicher gebundene Kinder zeigen dagegen in Kindergarten und Schule adäquateres Sozialverhalten, mehr Fantasie und eine bessere Grundstimmung, mehr und längere Aufmerksamkeit, ein höheres Selbstwertgefühl, weniger depressive und andere psychopathologische Merkmale, und sie sind aufgeschlossener für neue soziale Kontakte. Stabile und haltgebende Bindungen sind lebenslang wichtige Schutz-(„Resilienz“-)faktoren vor psychischen Störungen. Durch haltgebende Bindungen können auch die Folgen von traumatischen Erfahrungen gemildert werden. In der Psychotherapie kann eine stabile Bindung zum Psychotherapeuten als korrektive Bindungserfahrung erlebt, genutzt und allmählich verinnerlicht werden.

Werner Eberwein

Was ist die Bindungstheorie? – Werner Eberwein (2024)

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